(erschienen in: "Die Lebern der Anderen", Ullstein 2010)
Die Skatrunde im „Bettenhaus“ löst sich auf, aber ich bin noch gar nicht müde. Am Tresen hockt ein Typ, den ich schon seit einer Stunde immer wieder interessiert beobachte: Fischgrätensakko, abgetragene, aber gut sitzende Jeans, feine, melancholische Gesichtszüge. Ich setze mich auf den Hocker neben ihn. Bevor ich etwas sagen kann, stellt er sich als Bernhard Freumbichler vor.
Ja, man sähe es ihm vermutlich bereits an, er sei Schriftsteller, daraus mache er gar kein Geheimnis, denn ein Schriftsteller mit Geheimnissen sei durchschaubar, man könnte sagen dechiffrierbar, und auf diese Weise bereits mit einem Bein in der Lächerlichkeit. Ein Schriftsteller, so Freumbichler, könne alles sein, aber nicht unfreiwillig lächerlich. Fange er an unfreiwillig lächerlich zu werden, dann sei er bereits kein Schriftsteller mehr. Rätsellos zu sein, helfe ihm dabei, andere als rätsellos zu erkennen. So sähe er zum Beispiel sofort, da verlasse er sich ganz auf seinen Instinkt, dass auch ich mich zum Schreiben hingezogen fühle, mir die Geheimniskrämerei auch zuwider sei, mir aber andererseits zum echten Schriftsteller noch zu viele Rosinen im Kopfe schwöllen. Die Grauenhaftigkeit eines Daseins als Schriftsteller sei mir noch nicht bewusst, mir fehle noch jener Zug im Gesicht, der sich dem Erkennenden eingrabe, die magnetische Aura desjenigen, der den Boden der Tatsachen erreicht habe.
Er habe vor zwei Wochen sein vierzigstes Lebensjahr vollendet und könne von sich durchaus behaupten den Boden erreicht zu haben, den illusionslosen Grund. Ihm sei es immer um nichts als die Unabhängigkeit gegangen und naturgemäß habe ihn dieser Wunsch in nichts als Abhängigkeiten verstrickt. Der Schriftsteller wolle frei sein und begäbe sich sehenden Auges in die Unfreiheit. Er kündige jedem Chef, um sich zum Chef seiner selbst und damit dem grauenvollsten aller Chefs zu unterwerfen. Gegen diesen Chef, der man ja Tag und Nacht und in jeder Stunde und Minute selbst sei, seien die windigen Verleger und ihre schmierigen Spießgesellen vom sogenannten „Marketing“, das launische, oft erschreckend unbelesene Publikum sowie die eitlen Juroren und Jurorinnen der widerwärtigen Literaturpreise harmlose Pappkameraden. Gleichwohl verständen diese, allerlei Seile zu knüpfen, den nach Freiheit Dürstenden in Klebrigkeiten zu verstricken, die diesen dann wiederum bald die Flucht in die Kerkermauern des Alkohols antreten ließen oder in eine sogenannte Beziehung, die immer in erster Linie eine Erziehung und meistens eine Verziehung sei und mit grauenvollen Entziehungen und schließlich dem Entzug ende.
Er habe geglaubt, ein Stipendium befreie ihn und sich bald darauf in halber Umnachtung im finsteren Wendland als Stadtschreiber wiedergefunden, wo ihm ein feister Bürgermeister einen Präsentkorb voller Regional-Wurst überreicht habe.
Er habe geglaubt, die Veröffentlichung eines Buches stimme ihn heiter, vielleicht sogar zufrieden, dabei mache sie nichts weniger als das. Er habe sogar geglaubt, mit der Veröffentlichung eines Buches ließe sich Geld verdienen, bis er habe erkennen müssen, dass der Urheber des Geistigen von den Verstofflichern, den Marktschreiern und Krämern, mit einem Trinkgeld von fünf Prozent abgespeist werde. Genau genommen sei er Unternehmer und beschäftige mit seinen Geistesprodukten Dutzende von Menschen: Lektorinnen, Druckereiarbeiter, Illustratoren, Schriftsetzerinnen, Zwischenhändler, Marketingstrategen und Buchverkäuferinnen. Jede und jeder dieser Angestellten verdiene perverser Weise wesentlich mehr als er selbst, und sei krankenversichert.
Ja, er rede mir von Geld, und er rede heute noch vergleichsweise wenig von Geld. Er, dem jede Geldgier und jeder Zwang zuwider sei, verfolge zwanghaft der Gedanke ans Geld. Ihn, dem der Kapitalismus immer schon fadenscheinig erschienen sei, treibe kaum ein Gedanke mehr um, als der, auf welche Weise aus seiner eigenen Existenz Geld geschlagen werden, ja, wie er sich am besten verkaufen könne. Ihm, einem spirituellen Menschen, wühle sich Tag und Nacht die Sorge ums Materielle ins Hirn.
Aus diesem und keinem anderen Grund sei er damals der Verena Schenkwitz auf den Leim gegangen, und er habe sich bis heute nicht davon erholt. Dabei habe er der Schenkwitz gleich angesehen, um was für eine Person es sich handelte. Bereits die in die Stiefel gestopfte Jeans habe ihm auf einen Blick die ganze Schenkwitz aufgeschlüsselt. Aber er habe mit dem Geplapper der Berechnung die Stimme seines Instinktes zum Schweigen gebracht und sich der schmutzigen Frau angedient, die tatsächlich auf die abgeschmackte Idee verfallen gewesen sei, ein Musical in Gedichtform schreiben zu lassen. Ein mit Laien aus der sogenannten Poetry Slam Szene besetztes Musical. Ein sogenanntes romantisches Lyrical. In Kiel. Ein Kieler Romantik-Lyrical. Spätestens hier hätten bei ihm alle Alarmglocken läuten müssen und sie haben auch geläutet, aber er habe sie überschrien, habe das lauter werdende Läuten, das ständige Bimm und Bamm, noch lauter überschrien, dabei nichts und wieder nichts als das Geld im Kopf, mit dem die dralle Schenkwitz gelockt habe. Auf halbseidenen Wegen, durch ein sogenanntes Autorenforum, sei sie an ihn geraten, habe ihn beschwatzt und seine Geldnot sowohl gleich gespürt als auch sofort auszunutzen verstanden, denn er sei genau das gewesen, was ihrem irrsinnigen Projekt noch gefehlt habe: ein Schriftsteller, ein Dichter, jemand der dachte, sprach und aussah, wie sich die Feuilleton-Leserschaft einen Autoren vorstellte. Jemand, dessen Visage man hinhalten und ausbeuten konnte. Den Herren Autor habe sie ihn genannt, den Kopf des Schreibteils des Projektes. Chef-Autor habe unter seinem Foto auf der Homepage gestanden. Einem Foto im übrigen, dass ihm noch heute manchmal im Schlaf erscheine und ihn tödlich erschrecke.
Die Schenkwitz habe sich nicht entblödet, ihn zum Unterzeichnen des Vertrages und zum Besprechen weiterer angeblich wichtiger Details in ihre Wohnung zu laden, was ja bereits vernichtende Auskunft über ihre Professionalität gegeben habe. Er aber, mittlerweile völlig willenlos, habe auch diesen Unfug mitgemacht und tatsächlich an einem Freitagabend pünktlich um 20.00 Uhr an der Tür der schenkwitzschen Wohnung geläutet, woraufhin sie in einem dirndlhaften Aufzug geöffnet habe. Ein Blick in ihr grell geschminktes Monchichi-Gesicht habe ihm eine endgültige Warnung sein müssen, aber er habe auch diese in den Wind geschlagen und sich und seine Widerstandkraft wieder einmal völlig überschätzt.
Ihre Wohnung sei grässlich gewesen. Eine Kochnische ohne Gebrauchsspuren aber übersät mit Pizzakartons habe vom nonchalanten Essverhalten des Weibsbildes gekündet. An den pastellfarbenen Wänden sei er mit zerbrochenen Airbrush-Herzen konfrontiert worden, während das schlauchförmige Wohnzimmer nur aus einem schwarzen Ledersofa und einem wuchtigen Fernsehapparat bestanden habe, beides umzingelt von etlichen halbvollen 1,5 l Coca-Cola-light-Flaschen. Die wirklichen Perversionen habe jedoch das Arbeitszimmer für ihn bereit gehalten: Entsetzliche Bücher in einem schwarz-weißen Schrank: ein Buch über Neurolinguistisches Programmieren, mehrere Astrologie-Ratgeber, Palast der Winde, Meer der Träume, Zug der Möwe, Berg der Sünde, Traummänner – und wie man sie bindet. Die abgeschmackten Blödeleien eines Mario Barth im Verbund mit sogenannter Frauenliteratur und Unerquicklichem wie dem Kleinen Prinz, dem verfluchten Propheten und dem beschissenen Alchemisten.
Die Schenkwitz habe seinen Blick aufs Bücherregal bemerkt und gesagt: „Tja, da schaust du. Ich lese querbeet. Hier, Die unendliche Geschichte, Hardcover!“ Er habe leise „Hardcover“ gemurmelt und „querbeet“ und der Schenkwitz dabei zugesehen, wie sie das besagte Buch hervorgezogen und sinnlos damit herumgewedelt habe. Dann habe sie ihm ein „Käffchen“ angeboten, er aber habe auf Wein bestanden, sich das Glas randvoll schenken lassen und wenige Minuten später ein zweites Glas gefordert.
Schließlich habe ihm die Schenkwitz von einem Konzept gesprochen, dass zu abgeschmackt sei, um ausführlich erwähnt zu werden. Mir müsse der Hinweis genügen, dass es in dem Lyrical um einen sogenannten Urmann gegangen sei, einen Adam, der sich in eine – ganz recht - Eva verliebe, die ihrerseits aber mit einem teuflischen Kerl verbandelt sei, was zu einem höchst flachen und vorhersehbaren Konflikt zwischen den beiden Männern geführt habe, derweil eine von der Liebe enttäuschte Frau, die Lilith, noch für die sogenannte überraschende Wendung habe herhalten müssen.
Endgültig übel sei ihm geworden als die Schenkwitz ihm einen ersten Plakatentwurf präsentiert habe: einen roten, halbgeöffneten Theatervorhang hinter dem ein warmes Licht erkennbar gewesen sei. Darunter ein mit Rosen umrahmter Satz, den die Schenkwitz als „Claim“ bezeichnet habe: „Romantik beginnt mit Kerzenschein, dazu Gesang, Gedichte und Wein.“ Er habe sich empfohlen und sei zur Toilette gehastet, derweil ihm die Schenkwitz ein „Was geht denn jetzt?“ nachgerufen habe
Auf dem Klo habe er sich in befreienden Schwällen übergeben und die Titel seiner Lieblingsromane aufgezählt wie eine Bauersfrau die Namen der vierzehn Notheiligen. Zurück am Arbeitstisch habe er sich ungefragt Wein nachgegossen und nach einem Vertrag gefragt, über den er dann mit der Schenkwitz auch handelseinig geworden sei, obwohl er insgeheim mit mehr Geld gerechnet habe. Während der Vertragsniederschrift habe die Schenkwitz übelriechende Light-Zigaretten geraucht, Kaugummi gekaut und gleichzeitig genug Cola in sich hinein gegossen, um einen Kinder-geburtstag bei Laune zu halten. Er habe sich mittlerweile in einer heiter-apokalyptischen Laune befunden, zu allem „Ja“ und auch noch „Amen“ gesagt und sogar die lyrischen Vorschläge der Schenkwitz und der sogenannten Poetry Slammer gerühmt.
Schließlich habe ihn die Schenkwitz ernst angesehen und sich angeschickt, ihm ins Gewissen zu reden: Auf Fremdworte solle er verzichten. Ständig gebrauche er Fremdworte. Auch die sperrigen Satzkonstruktionen und den albernen Konjunktiv habe er sich abzugewöhnen. Ein Publikum dürfe man nie überschätzen. Wenn sie ihn manchmal schon nicht verstünde, dann verstünden ihn 90% der zahlenden Gäste nicht, die Gäste zahlten aber nicht, um etwas nicht zu verstehen, die Gäste zahlten, um etwas zu verstehen. Nur dafür zahlten die Gäste, habe die Schenkwitz gesagt und ihm am Ärmel gezogen, um ihm etwas zu zeigen. „Ich muss dir etwas zeigen“, habe die Schenkwitz gesagt und gekichert. Wie betäubt hätte er sich von seiner Geldgeberin in ihr Schlafzimmer bugsieren lassen, in die Nähe eines Bettes, das mit Satin-Bettwäsche überzogen gewesen sei. Auf der Bettwäsche und auf mehreren Regalen über und neben dem Bett sei er einer großen Zahl von Stoffwesen ansichtig geworden. Er sage bewusst Wesen, denn um Tiere habe es sich nicht gehandelt, vielmehr um Stoffgemüse wie Tomaten, Rettiche und Gurken, aber auch um Obstgeschöpfe wie Pflaumen mit Augen und Birnen mit kleinen Händchen. „Das sind meine Stoffis“ habe die Schenkwitz gesagt. „Rate mal, wer der Anführer ist!“
Er habe zitternd am Regal Halt gesucht und kraftlos „Die Möhre“ genuschelt. Aber damit habe er falsch gelegen. „Falsch“ habe die Schenkwitz gesagt und dann unter Kichern einen halbgepellten Maiskolben aus dem Plüschwust gezogen und als „Kanzler Mais“ vorgestellt.
In diesem Moment habe er ein Spannen an der Oberlippe gefühlt und darin sogleich ein untrügliches Anzeichen für einen ausbrechenden Hass-Herpes erkennen müssen. Er sei so mit den Stoffgemüsen und dem beginnenden Herpes beschäftigt gewesen, dass er nicht bemerkt habe, wie die Schenkwitz nahe an ihn herangetreten sei und gefragt habe, ob Dichter nicht oft sehr einsam seien. Nach einigen schweigsamen Augen-blicken habe sie hinzugefügt, sie habe den Vertrag noch nicht unterschrieben, aber über die Geldsumme ließe sich noch verhandeln.
An dieser Stelle bricht Freumbichler seine Erzählung ab und fragt unvermittelt, ob ich seinen Deckel bezahlen kann. Ich stehe noch so im Bann der Geschichte, dass ich sofort einwillige. Freumbichler klopft mir auf die Schulter, steht auf und sagt: „Wenn du mit dem Schreiben ein ganz klein wenig Geld verdienen willst, dann mach es dir leicht. Schreib was Lustiges. Heitere Stadtgeschichten. Einfacher Stil. Ein bisschen seicht.“
Mit diesen Worten verschwindet Freumbichler im Nieselregen der Herbstnacht. Das einzige, was von ihm bleibt, ist sein Deckel über 98,70 Euro. Der Wirt des Bettenhauses meint, die Grenze zwischen Künstlern und professionellen Schnorrern sei in Berlin fließend. Ich aber finde: Mancher Ratschlag ist nicht mit Gold aufzuwiegen.