(erschienen in: "Risse im Beton: Das Beste aus dem MDR-Literaturwettbewerb 2009", Rotbuch-Verlag 2009)
Wir bekommen den Hund nicht aus dem Kopf. Wir liegen in einem Zelt, an einem Strand und denken an den Hund. Wie er unsere Fährte aufnimmt. Wie er Kreise um uns zieht, enger und enger. Wir haben einen Stock im Zelt, den Cora Knüppel oder Waffe nennt. Im letzten Dorfladen hat sie Nägel mitgehen lassen und zwölf davon mit einem Stein durch das Holz gehämmert. Zentimeterlang. Kreuz und quer. Das war erst gestern, aber es kommt mir so vor, als ob Cora schon vor Tagen Nägel in den Stock geschlagen hat. Wir sind weit gelaufen seitdem. Bis ins Niemandsland. Hier ist nicht viel: Meer, Strand, Pinien. Zwischen den Pinien ein Trampelpfad, der bis zur Landstraße geht. Irgendwann an der Landstraße kommt das Dorf mit dem Laden.
Der Hund ist schwarz und gar nicht so groß. Erst dachten wir, der gehört zu jemandem. Aber es ist niemand gekommen. Wir sind zweimal weitergezogen, zehn, 15 Kilometer, und der Hund tauchte wieder auf, aber ein Mensch war nie dabei. Cora meint, der Hund ist richtig gefährlich. Ich glaube ihr, weil sie Angst hat, und weil ich ihre Freundin bin. Ein Hund, der zu niemandem gehört, ist unberechenbar. Er weiß ja nicht, wie er sich verhalten soll. Wenn er richtiges Verhalten gelernt hat, meint Cora, verlernt er es in der Wildnis wieder. Und vielleicht hat er zu viel Angst oder gar keine und dann greift er auch Menschen an und zerfetzt ihnen die Kehlen.
Cora meint, ihn auch nachts gesehen zu haben. Nichts als die Augen, hat sie gesagt. Ich habe den Hund nur am Tag gesehen. Er stand zwischen den Bäumen oder bei einer Düne und sah zu uns rüber. Er trabte seitlich am Wald entlang, den Kopf zu mir gedreht, wie ein Wolf.
Wir haben uns schon viel zu dem Hund überlegt. Dass er weggelaufen ist, dass er ausgesetzt wurde und überlebt hat, dass er ein Spürhund ist, vielleicht extra auf uns angesetzt. Dass er Tollwut hat oder eine andere Krankheit. Dass er verrückt ist. Dass er ein Gespenst ist. Sicher ist, der Hund folgt uns. Vielleicht, weil er sich uns anschließen möchte. Ich habe das Cora gesagt: Der Hund beschützt uns und will dafür Fressen. Cora hat mich so herablassend angesehen, dass ich unsicher wurde. Was weißt du vom Beschützen, hat sie gesagt, und seitdem tut der Satz weh, wenn ich an ihn denke. Ich bin fast ein Jahr älter als Cora, aber schon lange ist sie die Ältere. Allein wegen ihrem zu Hause Dinge weiß sie Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Dabei wäre vielleicht alles einfacher, wenn der Hund unser Freund sein könnte.
Es ist längst dunkel. Wir liegen im Zelt und denken an den Hund. Cora fragt: Glaubst du, dass sie es in dem Zelt miteinander gemacht haben. Keine Ahnung, sage ich. Vielleicht, als sie jünger waren. Cora schüttelt sich und sagt: ekelhaft. Zweimal. Ich gebe ihr den Goldbrand. Wir trinken Schnaps am Abend, weil das jetzt dazugehört, aber auch manchmal zwischendurch, wenn ein Anlass da ist. Es ist nichts Aufregendes mehr. Ich komme mir noch nicht mal besonders erwachsen vor, wenn ich aus der Flasche trinke und mein Gesicht ganz ruhig halte, obwohl es sich zusammenziehen will. Mit dem Rauchen ist es dasselbe. Aus Langeweile rauchen wir mehr als sonst. Dabei ist vom Geld kaum noch etwas übrig und wir sollten sparen. Am Anfang waren wir unvorsichtig. Cora hat sich neuen Puder und einen Bikini gekauft, obwohl sie schon einen dabei hat und ich sogar zwei. In der ersten Woche mussten wir auch unbedingt in so ein feines Fisch-Restaurant. Wir waren beide geschminkt, aber Cora war richtig gestylt. Wie 18 oder älter. Am Ende wollte der Kellner noch mit uns in eine Bar nebenan, wobei es ihn bestimmt nicht gestört hätte, wenn ich mich in Luft aufgelöst hätte. Die totale Verschwendung. Wenn ich jetzt daran denke, wie lange wir mit dem Geld hätten auskommen können, werde ich wütend.
Wir liegen wach. Wir bekommen den Hund nicht aus dem Kopf. Bevor er kam, haben wir draußen geschlafen. Cora hat gesagt: Das Zelt ist wie eine Gummizelle mit zu niedriger Decke. Erst roch es nach Turnhallenmatten, jetzt riecht es nur noch nach kaltem Rauch und immer deutlicher nach Cora, und ich schlafe darin so, dass ich beim Aufwachen denke, ich hätte nicht geschlafen.
Wir hören zusammen Mp3s. Cora hat einen Kopfhörer in ihrem linken Ohr, ich habe einen Kopfhörer in meinem rechten Ohr. Ich höre, dass Cora mitsingt. Ohne sie anzusehen, weiß ich, wie ihr Gesicht dabei aussieht, welche Falten es wirft. Cora will nur traurige Lieder hören, weil die nicht oberflächlich sind.
Manchmal döse ich weg und dann schrecke ich hoch und denke, dass ich den Schulbus verpasst habe. In dem Schulbus sitzt Thomas. Ich hoffe, dass er sich fragt, warum ich nicht mehr morgens in den Bus steige, in dem er schon sitzt. Immer auf der hintersten Bank.
Aber diese Gedanken tun mir in unserer Situation nicht gut, das hat auch Cora gesagt. Es ist besser, ich denke nur noch an die Zukunft oder zumindest an die Gegenwart. Um mich abzulenken, mache ich wieder einmal Inventur. Es beruhigt mich, aufzuzählen, was wir alles haben: Wir haben jede einen Rucksack mit Klamotten und Kulturbeuteln, und außerdem haben wir zusammen einen Kocher, einen Mp3-Spieler, ein Set Tarotkarten, ein Duschgel, eine Taschenlampe, eine halbvolle Schnapsflasche, dreieinhalb Packungen rote Gauloises, noch 67 Stück, drei Päckchen Asia-Nudelsuppen, einen Beutel Scheibenbrot, eine fast volle 500-Gramm-Schale Margarine, ein Glas Erdbeermarmelade, eine Flasche Ketchup, zwei Plastikflaschen mit Wasser, drei Tüten Apfelsaft, Kaffeepulver, Teebeutel, zwei 500-Gramm-Packungen Spaghetti, drei Tafeln Schokolade, ein Sechserpack Heineken, zwölf Packungen Taschentücher, den Knüppel und ein großes Taschenmesser. Wir haben auch Piniennadeln und Sand im Zelt, und Zehennägel, die sich Cora hier drin geschnitten hat, und unter dem Vorzelt eine Ameisenstraße zu einer nicht richtig geschlossenen Safttüte.
Cora zieht mir den Kopfhörer aus dem Ohr. Gestern Nacht habe ich den Engel gesehen, sagt sie. Ich sage nichts. Er stand zwischen Meer und Strand, sagt sie. Und er sagte zu mir: Wenn dich Monster jagen, musst du schrecklicher werden als die Monster.
Ich habe einen kranken Geschmack im Mund. Ich weiß nicht, was Cora mit dem Engel hat. Sie zieht mich am Arm und will, dass ich sie ansehe. Ich sehe sie an. Sie will, dass ich etwas sage. Ich sage: Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wiederholt Cora und macht dabei meine Stimme nach. Dann wird ihre Stimme wieder ihre: Manchmal glaube ich, nicht mal du verstehst mich. Vielleicht bist du auch eine Enttäuschung. Vielleicht hat der Engel Recht, sage ich. Der Engel hat Recht, sagt Cora. Der Engel hat immer Recht. Ich nicke. Cora sagt: Zieh dein T-Shirt hoch. Ich mal dir den Engel auf den Bauch.
Cora malt mit dem Kajalstift den Engel. Es ist zu dunkel, um etwas zu sehen, aber den Stift und Coras warme Finger kann ich gut auseinanderhalten. Die Flügel sind schwarz und die Augen sind silbern, sagt Cora. Da habe ich keinen Stift für. Denk dir die Augen silbern, okay?
Ich will noch etwas sagen, aber Cora legt plötzlich den Zeigefinger an ihre Lippen. Psst! Ich kann nur ihre Umrisse sehen und stelle mir vor, wie ihre Regenbogenhäute im Weiß der Augen von der Mitte an den äußersten Rand wandern. Ich horche. Es geht ein bisschen Wind, der die Pinien und die Wellen rauschen lässt. Mehr höre ich nicht. Cora flüstert: Ist er das nicht? Wir horchen beide. Ich höre nur die Bäume und das Meer, und Cora hört im Windrauschen vielleicht noch das Schnüffeln des Hundes. Ins Zelt kommt er nicht rein, sage ich leise. Was weißt du, sagt Cora und horcht wieder. Wenn ein Hund verwahrlost ist, zerbeißt er auch Zelte. Cora greift den Knüppel. Ihr Schemen wird dichter und schwärzer. Du leuchtest mir und ich geh raus, sagt sie. In Höschen? frage ich. Wir ziehen uns Jeans an, sagt Cora. Ich lass mich nicht von dem Scheißhund gefangen halten. Wir fummeln in unseren Rucksäcken rum. Wir ziehen uns die Jeans an. Ich nehme die Taschenlampe. Cora zieht den Reißverschluss nach oben und stößt sofort den Knüppel nach draußen. Ich versuche den Lichtstrahl richtig in die Nacht zu schicken, während Cora aus dem Zelt kriecht. Ich muss hinterher und so gut wie möglich leuchten. Mit dem Rücken zum Zelt schwenke ich die Taschenlampe in einem Halbkreis. Cora geht ein paar Schritte und lässt den Knüppel an beiden Armen durch die Luft sausen. Der Strahl der Lampe reicht ziemlich weit. Bis zu den Bäumen und bis zum Wasser und geradeaus ein ganzes Stück den Strand hinunter. Der Hund ist nicht zu sehen. Siehst du, sage ich, als Cora schon aufgehört hat, den Knüppel wie eine Sense durch die Luft zu schwingen. Leuchte mal auf den Boden, sagt sie. Ich leuchte auf den Boden. Weiter hier rüber, sagt sie heiser. Hier lang. Ich leuchte und leuchte, und dann flüstert sie: Da sind seine Spuren. Und Cora hat Recht. Nicht weit vom Zelt sind Hundespuren, und Cora ist sicher, dass die heute Nachmittag noch nicht da waren. Sie führen vom Zelt weg, aber für Cora heißt das, dass sie von der anderen Seite zum Zelt hinführen. Während ich mit dem Lampenstrahl den Spuren entgegen ihrer Laufrichtung folge, brüllt Cora los: Komm her, du Scheißhund. Ich mach dich fertig. Ich bring dich um.
Auch wenn wir uns im Zelt am wenigsten wohl fühlen, weil wir nicht nach draußen sehen und uns auch kaum bewegen können, sind wir beide der Meinung, darin am sichersten zu sein. Eine soll immer schlafen, die andere wach bleiben und aufpassen. Die Jeans ziehen wir nicht mehr aus. Ich habe die erste Wache. Manchmal knipse ich die Taschenlampe an und halte sie so, dass ich einen Teil von Coras Gesicht sehen kann ohne sie zu blenden. Wie sie daliegt, ist sie gar nicht so schön. Normal, würde ich sagen. Aber ich weiß, wie sie sich verwandeln kann, wenn sie will. Dann wird sie so, wie die Jungen und Männer sie haben wollen, und noch schöner. Ich habe den Trick beobachtet, aber nachmachen kann ich ihn nicht. Vorsichtig leuchte ich ihren Hals entlang, über ihr Kinn, ihren Mund, nicht auf ihre Augenlider. Manchmal zuckt es in ihren Wangen und ihr Kiefer ist verkrampft. Sie macht Geräusche mit den Zähnen. Schlaf schön, sage ich leise. Schlaf doch schön.
Ich muss sie immer wieder anleuchten, um zu sehen, ob sie sich im Dunkeln verwandelt. Diesmal nicht in die Schöne sondern in das Gegenstück. Ob sie ihren Kiefer so anspannt, dass er sich zu einer Schnauze verformt, ob ihre Hände zu Krallen verkrümmen.
Ich beschütze dich vor dem Hund, sage ich leise, ziehe das Taschenmesser aus der Vordertasche von Coras Rucksack und lasse es in meine Hosentasche gleiten. Ich beschütze dich doch. Ich knipse die Lampe an und wieder aus und wieder an. Ich versuche, an die Zukunft zu denken, aber ich kann mir nichts vorstellen. Meine Gedanken sind sofort in der Vergangenheit, bei Meli und Isa, und bei Thomas, wie er im Bus in der letzten Reihe sitzt und guckt, wenn ich einsteige, aber nicht dann, wenn ich gucke, sondern kurz davor oder danach, gerade so, dass ich es merke. Vielleicht fragt er sich, wo ich bin. Ganz sicher fragt er sich, wo Cora ist. Alle werden sich fragen, wo Cora ist.
Als ich zum hundersten Mal in Coras Gesicht leuchte, sind ihre Augen geöffnet und blicken mich an, als hätte sie gar nicht geschlafen. Schlaf jetzt, sagt sie. Ich bin dran.
Ich schlafe nicht richtig, ich glaube, ich denke mehr, als dass ich träume. Der Hund – immer denke ich, der Hund ist da. Im Zelt. Direkt neben mir, starrt mich an, schnüffelt an mir und wühlt sich mit seiner Schnauze in meinen Schlafsack.
Ich stehe draußen auf dem Strand und es ist kein Traum. Es ist schon hell. Das klare, reine Licht des Morgens habe ich so selten gesehen, dass es unecht wirkt. Ich habe noch Coras lockende Stimme im Kopf: Komm nur, Hundchen. Komm. Wauzi, Waldi, Wulli, Kirja, Rex. Komm. Jetzt schreit sie und schlägt den Knüppel immer wieder mit voller Wucht auf den schwarzen Haufen. Der Hund jault schon seit Minuten nicht mehr. Cora bewegt sich eckig. Ihre dünnen, harten Arme schlagen immer weiter und sie brüllt: Verrecke. Scheißvieh. Verrecke. Verrecke. Verrecke.
Ich stehe auf dem Sand und sehe zu, wie bei einem Kinofilm. Wie bei einer lang geprobten Szene, die endlich vor Publikum aufgeführt werden kann. Es dauert sehr lange und Cora scheint nicht müde zu werden.
Die Sonne steht ein Stück über dem Meer, als Cora den Knüppel sinken lässt und gegen den Kadaver tritt: Du Sau. Du Drecksau. Was sagst du jetzt, du Fotze? Ich hör nichts! Du totes Stück Scheiße! Na?
Plötzlich hält Cora inne und dreht sich um. Ihre Augen leuchten mir entgegen. Sie hat die Arme vom Körper abgewinkelt und steht breitbeinig da. Na, sagt sie und hebt das Kinn ein Stück. Sie kommt auf mich zu, mit diesen abgewinkelten Armen und einem Gang, den sie sich bei jemandem geborgt hat.
Ich kann ihr nicht lange in die Augen sehen, sondern muss auf den Knüppel gucken. Cora wechselt ihn von der rechten in die linke Hand und hebt den Arm. Ich zucke ein bisschen, dann verstehe ich, dass sie will, dass ich einschlage. Freundinnen für immer, sagt Cora. Freundinnen für immer, sage ich, und schlage ein und taste mit der linken Hand nach dem Messer.