Über das Coronavirus zirkulieren sogenannte Verschwörungstheorien. Manche Menschen glauben an sie. Und als Glauben lässt sich das Phänomen auch am ehesten begreifen. Ein Essay von Anselm Neft. (Eine kürzere Fassung erschien am 13.5.2020 auf ZEIT-Online.)
Mitte April verwickelte mich ein guter Bekannter auf der Straße in ein Gespräch über die Corona-Krise. Er sei sich noch nie so im Unklaren gewesen wie jetzt. Ich nickte, ich konnte das nachvollziehen. Dann aber sagte er: "Ich verstehe halt nicht, warum sie dafür die Wirtschaftskrise in Kauf nehmen." Ich fragte ihn, wen er mit "sie" meint, aber er lächelte nur geheimnisvoll. Zum Abschied sagte er noch, ich solle mich einmal fragen, was wohl Jens Spahn und Bill Gates bei den „Bilderbergern“ besprochen hätten. Zu Hause schaute ich im Netz nach: Laut Wikipedia war Bill Gates 2010 auf einer Bilderberg-Konferenz gewesen, Jens Spahn 2017. Vielleicht hatte ich etwas falsch verstanden.
Am nächsten Tag hielt mir auf der Straße eine bürgerlich aussehende Frau mit Kinderwagen unaufgefordert einen Vortrag über die Pläne der Impfmafia. Als ich einem Freund am Telefon davon erzählte, wurde er plötzlich sehr aufgeregt: Er werde eher sterben, als sich zwangsimpfen zu lassen. Seitdem sehe ich von Bekannten und Freunden täglich auf Facebook teils sehr lange Postings zum skandalösen Irrsinn der Corona-Panik.
Solche Begegnungen erleben gerade viele Menschen. Manche äußern sich genervt, herablassend oder besorgt über "Aluhutträger". Mehr denn je scheint sich das Land in die Vernünftigen und die Spinner zu spalten. Aber ist es so einfach? Stimmen die gängigen Annahmen über sogenannte Verschwörungstheoretiker? Oder machen es sich auch vermeintliche Stimmen der Vernunft oft zu einfach?
Dem Namen nach sind Verschwörungstheorien einfach Theorien über Verschwörungen. Entsprechende Vermutungen müssen keineswegs falsch sein. Es gibt ja durchaus geheime Machenschaften von Gruppen, die sich gegen das Gemeinwohl richten. Drogenkartelle etwa könnten keine Geschäfte machen, gäbe es nicht bis weit in die vermeintlich ehrbare Gesellschaft hinein Menschen, die deren kriminelles Tun decken, befördern, ermöglichen würden; schmutziges Geld zum Beispiel gelangt nicht von selbst gewaschen in den regulären Geldkreislauf. Hinter Watergate, dem bis heute größten Politskandal in der Geschichte der USA, verbargen sich geheime Aktivitäten hochrangiger Mitarbeiter des Weißen Hauses und der Wiederwahlkampagne des damaligen Präsidenten Richard Nixon – es handelte sich im Kern eindeutig um eine Verschwörung. Auch das Grippemedikament Tamiflu konnte nur deshalb in so großem Maßstab vom Pharmaunternehmen Roche an etliche Nationen verkauft werden, weil Ergebnisse geschönt, Studien zurückgehalten und keineswegs unabhängige Wissenschaftler als Sprachrohre genutzt wurden. Der ZEIT-Redakteur spricht 2012 von einer Verschwörung. Bereits 2009 brachte arte eine Dokumentation zum gleichen Thema: „Profiteure der Angst“. Schließlich ist auch nicht jede Kritik an der Stiftung von Bill und Melinda Gates (BMGF) als pure Fiktion abzutun. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstellt beispielsweise in einem Artikel von 2017, die BMGF habe eine PR-Firma bezahlt, damit diese den einzigen UN-Prozess zur Regulierung von Gene-Drive-Technologien – der unkontrollierten Freisetzung genetisch manipulierter Lebewesen – unterwandere.
Nicht jeder, der aktuell die Gatesstiftung oder Pharmafirmen kritisch sieht, ist ein Spinner. Im Gegenteil: Wer hier und andernorts Verschwörungen von vornherein ausschließt, ist ausgesprochen naiv und schlecht informiert. Ein misstrauisches Hinterfragen von Autoritäten, Experten und Regierungsplänen ist stets sinnvoll. Würde keine Kritik mehr geäußert, stünde es um die Demokratie schlecht. Üblicherweise kommen Verschwörungen bald ans Licht, je mehr Verschwörer involviert sind, desto schneller. Das hat zumindest der Wissenschaftsjournalist, Physiker und Krebsforscher David Robert Grimes ausgerechnet. Bei Verschwörungen, die mehr als 2500 Beteiligte benötigen, würde es laut Grimes keine fünf Jahre dauern, bis sich jemand an die breite Öffentlichkeit wendet. Eine Verschwörung all der Tausenden von Wissenschaftler*innen, die auf einen menschengemachten Klimawandel hinweisen wäre demnach extrem unwahrscheinlich.
Glaubensinhalte, keine Theorien
Wenn ich von „Verschwörungstheortikern“ spreche, sollte ich erst einmal klären: Weist da jemand auf Berichte über tatsächliche Verschwörungen und intransparente Machenschaften hin? Spekuliert da jemand über mögliche Verschwörungen? Oder predigt jemand über das Wirken dunkler Mächte? Wenn sich das Hinterfragen selbst nicht mehr hinterfragt und Annahmen über unbewiesene dunkle Machenschaften als Wahrheiten gesetzt werden, verwandelt sich Spekulation in Glauben. Im Englischen ist der Begriff conspiracy belief längst etabliert. Im Deutschen klingt das Wort "Verschwörungsglauben" noch etwas ungewohnt, beschreibt aber die Haltung vieler Menschen, die solche Ansichten vertreten, besser als die Zuschreibung "Verschwörungstheoretiker". Denn diese Menschen stellen in der Regel keine widerlegbaren Theorien auf, sondern kultivieren Glaubensinhalte. Anders als die Zeugen Jehovas früher klingeln sie heute oft nicht einmal vorher an der Tür und fragen, ob sie mit einem über die geheimen Strippenzieher sprechen dürfen. Sie verbreiten ihren Glauben massenhaft über soziale Medien, auf Twitter, Instagram und Facebook, in Messenger-Chats auf WhatsApp und Telegram.
In meinem Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft spielte teilnehmende Beobachtung eine ebenso wichtige Rolle wie das möglichst vorurteilsfreie Erforschen verschiedener Glaubenssysteme. Wir sprachen mit Mormonen und Anthroposophen, besuchten Evangelikale und Scientologen. Mein Professor brachte mir bei, die Gläubigen nicht allein als Objekte und mich selbst nicht ausschließlich als Subjekt zu betrachten. Eine solche Abspaltung wirke zwar oft besonders wissenschaftlich, sie würde aber die Subjektivität meiner Beobachtung nur verstärken, so mein Professor. Ich solle nicht so tun, als ob ich nicht selbst auch einen persönlich gefärbten Blick auf die Welt hätte, gespeist aus Überzeugungen, Vorurteilen, Ängsten, Wünschen und Glaubensvorstellungen. Diese solle ich mir vor jeder Beobachtung und Beschreibung bewusst machen. Letztlich verlangte dieser Professor nicht weniger als eine immer wieder durchgeführte Selbstreflexion der Forschenden.
Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert
Wende ich diese Methode auf meine Betrachtung von Verschwörungsgläubigen in meinem Umfeld an, hilft mir das, einen Schritt zur Seite zu treten. Zunächst fällt mir ein, dass ich selbst während einer Phase meines Lebens Verschwörungsglauben bis zu einem gewissen Maße kultivierte. Als Kind wurde ich christlich erzogen, war jahrelang Messdiener, betete und sprach oft mit Gott. In der Jugend kam mir das Christentum meiner Eltern fragwürdig vor, die Jesuiten am Gymnasium kamen mir zunehmend heuchlerisch und widerlich vor. Auf der Suche nach einem spirituellen, widerständigen, selbstermächtigenden Ersatz ohne den in meinen Augen unterdrückenden Überich-Schuldkomplex, den ich mittlerweile mit dem Christentum verband, wandte ich mich als Teenager okkultistischen Lehren und esoterischen Grübeleien zu. Mein Vertrauen in den Glauben meines Umfeldes war tief erschüttert, vor allem durch die offen zu Tage liegenden Widersprüche zwischen Predigt und Praxis. Mit Anfang 20 entdeckte ich in einem Esoterikbuchladen in der Bonner Südstadt das zweibändige „Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert“. Das Werk wurde 1994 von Jan Udo Holey unter dem Pseudonym Jan van Helsing veröffentlicht, einem Mann, den der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Esoteriker bezeichnete. 1996 wurden die beiden „Geheimgesellschaften“-Bände wegen Volksverhetzung indiziert und vom Markt genommen. Die jüdische Weltverschwörung, die darin in einer Mischung aus Horrorfantasy, „Mein Kampf“, okkultem Geheimwissen, Ufologie sowie einer Mischung von Fakten und Phantasien dargelegt wird, passte gut in das rechtsesoterische Denken, dass ich in dieser Zeit kultivierte. Ein Kommilitone bezeichnete das Buch wutentbrannt als gemeingefährlichen Unsinn und bestärkte mich in dem Gefühl, auf einer heißen Spur zu sein. Auch war ich einfach zu ungebildet, verkopft, ignorant und emotional verschlossen, um die Tragweite des Holocaust an mich heran zu lassen oder auch nur zu erkennen, dass Holey Holocaustleugner zitierte und Naziglorifizierung betrieb. Ich liebte die beiden Bände! Anstatt mich mühsam mit Politik, Soziologie und Geschichte befassen zu müssen, hatte ich hier einen spektakulären Generalschlüssel: eine kleine Elite nutzte seit Jahrtausenden ihre Macht, um die Welt in ihrem Sinne zu gestalten. Geschichte war kein chaotisches Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis einer gewaltigen Verschwörung, die aus zahlreichen kleinen Verschwörungen bestand. Um zu verstehen, wer sich da verschworen hatte, musste ich nur sehen, wer heutzutage die Macht in den Händen hielt. Follow the money. Diese Erklärung kam meiner Faulheit, meiner Autoritätsfeindlichkeit, meinem stark ausgeprägtem Misstrauen und meiner Eitelkeit sehr entgegen. Ich durchschaute, was viele nicht durchschauten.
Bei mir wurzelte der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung nie tief, ich spekulierte lediglich damit herum und fühlte keinen Drang, zu missionieren. Es reichte mir, mit ausgewählten Menschen raunend über die uralte Verschwörung zu fachsimpeln. Irgendwann verlor sich das Interesse, ohne dass ich es richtig bemerkte. Rückblickend denke ich, dass sich mein analytisches Denken weiter entwickelte und ich mich im Studium als selbstwirksamer denn je zuvor erlebte. In dieser Zeit ließ ich – stark begünstigt durch meine literarischen Ambitionen – Menschen an mich heranließ, die mir etwas auf Dauer Spannenderes und Lebenstüchtigeres anbieten konnten, als rechtsesoterisches Geraune: ernsthafte Auseinandersetzung mit Politik und intellektuellen Fragen, ausdauernde Arbeit, die zwar mühsam ist, aber zu echter Befriedigung führen kann, Solidarität, Mitgefühl. Ich brauchte schlicht keinen Verschwörungsglauben. Aber mir ist eine Ahnung davon geblieben, dass sich in einem solchen Glauben nicht nur Geltungsdrang und halbgebildete Besserwisserei, sondern auch eine tiefgehende Krise des Vertrauens äußern kann. Was, wenn die Mehrheit der Menschen entweder lügt oder an Lügen glaubt? Kann ich der Regierung trauen? Den Medien? Der Wissenschaft? Der „Schulmedizin“? Dem, was meine Freunde sagen? Liegt die Wahrheit nicht immer hinter den Kulissen?
Was macht mich wütend? Was macht mir Angst?
Nach dieser Erinnerung an mein eigenes Liebäugeln mit Verschwörungsmythen und rechtsextremer Gläubigkeit, kann ich meine Wut auf meinen Freund, missionierende Verschwörungsgläubige und entfesselte Hygienedemonstrant*innen betrachten und dahinter meine eigenen Ohnmachtsgefühle und Ängste wahrnehmen.
Ich fühle mich ohnmächtig, weil die angeblichen Fragen, die mir von Bekannten oder Freunden gestellt werden ("Es wurden also kaum 5G-Masten während des Lockdowns installiert?") tatsächlich auf Gerüchte zurückgreifen, die sich leicht streuen und nur mühsam widerlegen lassen. Ich bin in diesem Austausch auf eine Statistenrolle in einem Schauspiel festgelegt. Was ich auch sage, bietet nur die Bühne für die Selbstinszenierung meines Gegenübers, gerade wenn ich durch Widerspruch seine Besonderheit unterstreiche. Will ich das nicht mitmachen, bleibt mir nur der Kontaktabbruch.
Angst fühle ich, weil mir die Übereinstimmung über grundsätzliche Fragen zwischen Menschen so brüchig erscheint. Außerdem rührt das fundamentale Misstrauen meines Freundes an die eigene Unsicherheit: Was, wenn wirklich nichts so ist, wie es scheint? Kann ich den Experten trauen? Glaube ich denn nicht auch bloß? Was weiß ich wirklich? Was lässt sich überhaupt zweifelsfrei wissen?
Ich beruhige mich, indem ich mir klarmache: Ich muss nicht wissen, was im Kopf von Bill Gates vorgeht, schließlich verbreite ich im Gegensatz zu manchen Verschwörungsgläubigen keine Gerüchte über ihn. Die Beweispflicht liegt beim Ankläger. Sind dessen Argumente Fehlschlüsse oder seine angeblichen Beweise unbelegte oder generell nicht belegbare Annahmen, gibt es keinen Grund, ihnen Glauben zu schenken.
Dennoch bleibt eine Restunsicherheit: Auch wenn Logik, Beweisbarkeit und andere wissenschaftliche Standards die vernünftigsten, weil sinnvollsten Instrumente zur Wissenssicherung sind – es bleibt ein Abgrund aus Nichtwissen. Und die Suche nach dem Fundament der Logik wie unserer gesamten Existenz endet in Widersprüchen, wie Mathematiker wie Bertrand Russel oder Georg Cantor in der Formulierung von Paradoxien feststellen mussten. Auf diese Restunsicherheit können Menschen vertrauensvoll reagieren und sich grundlos getragen fühlen. Sie können davon aber auch tief verstört sein und den Kosmos als unheimlich wahrnehmen. Wer sich hier als Aufklärer zu behaglich fühlt, lese einmal Eugene Thackers Bände über den „Horror of Philosophy“ oder „The Conspiracy against the human race“ von Thomas Ligotti.
Ob man ein Urvertrauen besitzt oder nicht, sucht man sich nicht aus. Massiver Vertrauensmissbrauch in der Kindheit etwa kann ein grundlegendes Ohnmachtsgefühl hinterlassen, das später durch neuen Missbrauch oder krisenhafte Zustände reaktiviert wird. Bietet ein Verschwörungsglaube also stark verunsicherten Menschen Entlastung, weil so die eigene Verunsicherung ohne psychologische Innenschau erklärbar wird? So naheliegend diese Frage auch sein mag, dazu gibt es keine eindeutige Studienlage.
Den typischen Verschwörungsgläubigen gibt es nicht
Tatsächlich ist der Glaube an Verschwörungstheorien nicht so gründlich erforscht, wie man es bei einem Phänomen erwarten würde, das uns heute derart relevant erscheint. Die Sozialpsychologen Viren Swami und Rebecca Coles verwiesen im Jahr 2010 in einer Forschungsstand-Übersicht auf ganz verschiedene Erklärungsansätze für den Glauben an Verschwörungstheorien. Als Motivation steht mal der Umgang mit Hilf- und Machtlosigkeit im Fokus, mal das Unterstreichen der Individualität, mal der erzählerische Ausdruck negativer Gefühle, mal eine Form des Krisenmanagements oder das Stärken des Selbstwertgefühls.
Den typischen Verschwörungsgläubigen gibt es offenbar nicht und mögliche Faktoren wie Bildungsstand, Medienkompetenz oder Geschlecht sind in ihrem Einfluss nicht so eindeutig belegt, dass man Kausalitäten daraus ableiten könnte. Es sei denn, man pickt sich jeweils die Studie heraus, die der eigenen Sichtweise am ehesten entspricht.
Allerdings weist eine Studienreihe renommierter Forscher darauf hin, dass eine verstärkte Schulung analytischen Denkens den Glauben an Verschwörungstheorien reduziert. Laut einer aktuellen Studie der Western Sydney University glauben Menschen mit einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung sowie primäre Psychopathen und Menschen mit dem Persönlichkeitsmerkmal des Machiavellismus signifikant öfter als andere an Verschwörungstheorien. Das umfasst grob zusammengefasst Menschen, die sehr eigensinnig, affektarm, unangepasst, arm an Freundschaften und ideologisch ungebunden beziehungsweise offen für magisches Denken sein können. Auch können während einer Psychose oder einer akuten schizophrenen Phase Verschwörungsgedanken massive Ausmaße annehmen. Das heißt aber keineswegs im Umkehrschluss, dass Verschwörungstheoretiker automatisch schizoid oder psychotisch sind.
Maximal drei Prozent der Bevölkerung werden im Laufe ihres Lebens als schizotypisch klassifiziert. Deutlich mehr Menschen glauben an Verschwörungstheorien. So sind beispielsweise laut einer aktuellen Umfrage des Pew-Forschungszentrums 29 Prozent der US-Bevölkerung davon überzeugt, dass Covid-19 im Labor gezüchtet wurde. Und in der 2019 veröffentlichten Ausgabe der Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gaben knapp 46 Prozent der Befragten an, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Auch in Deutschland also gäbe es eine breite Basis für Verschwörungsglauben. (Allerdings muss man solche Umfragen selbst wieder hinterfragen, da ja z.B. Lobbys, BND oder NSA Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können, auch wenn sie keine geheimen Organisationen sind. Um von eindeutigem Verschwörungsglauben reden zu können, müssten man also exakt wissen, wie die Befragten eine solche Frage auffassen.)
Ist diese Bereitschaft nur verblüffend oder schon beunruhigend? Es ist jedenfalls kein reines Zeitphänomen: Der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Rob Brotherton argumentiert in seinem 2015 erschienen Buch Suspicious Minds, dass das menschliche Gehirn generell zum Misstrauen und zu den für Verschwörungsglauben typischen verkürzten Annahmen tendiert. Brotherton sieht darin vor allem einen evolutionären Vorteil.
Warum guten Menschen Böses zustößt
Der deutsche Historiker Dieter Groh definierte in einem Beitrag für den bereits 1987 erschienen Band Changing Conceptions of Conspiracy eine Verschwörungstheorie als einen Erklärungsversuch dafür, warum guten Menschen Böses zustößt. Solche Geschichten haben für jeden etwas Tröstliches. Denn wenn das Übel der Welt menschengemacht ist, kann es letztlich verhindert werden. Gleichzeitig entlastet ein Verschwörungsglaube von der eigenen Verantwortung: Bestimmen Superschurken die Geschicke, trage ich keine Schuld an dem Zustand der Welt, dem meines Umfeldes und letztlich meines eigenen Lebens. Das Christentum, so kann man es auch betrachten, kultivierte schon vor Jahrhunderten den Glauben an einen Mega-Verschwörer: Hinter allem Übel steckt letztlich der Teufel. Der stellt die dunkle Seite der "guten Mächte" dar, von denen der Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb, dass man "wunderbar geborgen" in ihnen sein könne. Auch das Böse aber kann Geborgenheit schaffen. Eine interessante Frage wäre, inwiefern erst der aufklärerische Ruf sich seines eigenen Verstandes zu bedienen im Zusammenspiel mit weitaus mehr verfügbarer Information für jedermann den Aufstieg von Verschwörungsglauben begünstigt hat. Handelt es sich um den dunklen Zwilling der Aufklärung? Eine privatistische Ersatzreligion, die auf zunehmende Individualisierung, die wachsende Wertschätzung von Rationalität und den Niedergang eines allgemein geteilten religiösen Glaubens hinweist? Wenn kein Gott und kein Teufel die Verantwortung für den Zustand der Welt trägt, dann lastet sie nun auf den Schultern der Menschen, die möglicherweise den eigenen Einfluss im Guten wie im Schlechten massiv überschätzen. Erst jetzt ergibt es vollauf Sinn an die „Weltverschwörung“ einer kleinen, bösartigen Elite zu glauben. Und ist womöglich dieses Phänomen besonders dort ausgeprägt, wo die Reibung zwischen Wissenschaft und Religion noch größer und die Säkularisieung noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie in den westlichen Ländern?
Der australische Islamwissenschaftler Matthew Gray bemerkt eine Vorherrschaft von Verschwörungsglauben im arabischen Raum. Vor allem antisemitische Hetze sei weit verbreitet und finde sich in Filmen, Schulbüchern, politischen oder religiösen Reden. So werde vor allem der eigene Entwicklungsrückschritt als Ergebnis dunkler Machenschaften eines äußeren Feindes erklärt. Der ägyptische Politikwissenschaftler und Kolumnist Abd Al-Munim Said formulierte es laut einem Artikel in der National Review so: „Das größte Problem an Verschwörungstheorien ist, dass sie uns nicht nur von der Wahrheit abschirmen, sondern auch davon, unsere Schwächen und Probleme anzugehen.“
Der psychologische Entlastungsnutzen von Verschwörungsglauben scheint noch einen anderen Haken zu haben: Laut der britischen Sozialpsychologin Karen M. Douglas bedienen Verschwörungstheorien zwar dringende Bedürfnisse, befriedigen sie aber nicht auf Dauer. Wie bei einer Sucht wird das, was bezwungen werden soll – vor allem Ohnmachtsgefühle – langfristig verstärkt.
Misstrauen wächst, wenn man es kultiviert. Die wachsende Skepsis gegenüber allem gesellschaftlich vermittelten Wissen verstärkt wiederum die eigene Unsicherheit und entfremdet einen von vielen Menschen. Ist das ein Preis, den viele Verschwörungsgläubige möglicherweise in Kauf nehmen, um besonders zu sein? Zumindest hat der Sozialpsychologe Roland Imhoff mit seinem Team in einer Studienreihe nachweisen können, dass Verschwörungsgläubige sich als außergewöhnliche Individuen erleben wollen. Je mehr Widerspruch sie erfahren, desto mehr bestärkt es sie in ihrem Gefühl der Einzigartigkeit. Ausgrenzung wird zur Auszeichnung umgedeutet.
Die Erzählungen vom Sündenbock
Dabei erfinden Verschwörungsgläubige gar keine originellen Privatansichten, sondern greifen auf längst vertraute, stark an Gefühle appellierende Gerüchte über dunkle Machenschaften zurück. Ein sehr langlebiges Beispiel ist die angebliche Verschwörung finsterer Ritual- und Kindermörder:
„Was die Zeremonien bei der Aufnahme neuer Mitglieder betrifft, so sind die Details ebenso abstoßend wie wohlbekannt. […] Dann – es ist grauenhaft – trinken sie voller Gier das Blut des Kindes und balgen sich um die Teile seines Körpers.“
Diese Textpassage könnte ebenso gut aus einer frühneuzeitlichen Schrift über die „Hexensekte“ wie aus einem Video von Xavier Naidoo stammen. Tatsächlich aber findet sie sich im spätantiken Octavius-Dialog und beschreibt damals verbreitete Anschuldigungen gegen die Urchristen. Die sogenannte „Ritualmordlegende“ ist uralt: Einer Minderheit werden grausige, geheime, schwarzmagische Verbrechen an den Kindern der Mehrheit unterstellt. Im Mittelalter waren vor allem Juden Opfer dieser Gerüchte, mit denen sich Vertreibungen und Lynchmorde rechtfertigen ließen. In der frühen Neuzeit konnte im Zuge des „Hexenwahns“ jede und jeder verdächtigt werden, ein Ritualmörder zu sein. Im „Hexenhammer“, der 1487 publizierten maßgeblichen Schrift für die Verfolgungen, wird den „Hexen“ unterstellt, eine Flugsalbe aus den Extremitäten von Kindern herzustellen. Dabei lehnt sich die umfangreiche dreiteilige kirchliche Rechtsschrift, die sich sprachlich und argumentativ auf dem wissenschaftlichen Niveau der Zeit befand, im Aufbau übrigens an den über 60 Jahre älteren „Judenhammer“ an. Darauf weist der Religions- und Politikwissenschaftler Michael Blume (auch Betreiber des podcast „Verschwörungsfragen“) in seinem Essay „Adrenochrom und Satanskulte“ hin.
Die neuste Version der Ritualmordlegende beschuldigt eine Elite aus Hollywoodstars, Politikern, Bankern und Topmanagern durch einen internationalen Kinderhändlerring hunderttausende Kinder sexuell auszubeuten, zu foltern und aus ihren angstgeplagten Körpern Adrenochrom zu gewinnen, ein Stoffwechselprodukt des Adrenalin, das angeblich verjüngend wirken soll.
Anklagende Gerüchte werden politisch instrumentalisiert
Die Nazis bedienten sich gezielt und ausgiebig der Ritualmordlegende. So schreibt Himmler mit Bezug auf das verschwörungstheoretische Buch „Die Wahrheit über die jüdischen Ritualmorde“ in einem Brief an Kaltenbrunner, den Chef der SS-Sicherheitspolizei: „Ich denke daran, daß wir diese Ritualmord-Fälle dann in unserer Presse bringen, um damit die Herausnahme der Juden aus den Ländern zu erleichtern.“ Auch riet er dazu, in „unseren Sendern“ vermisste Kinder mit jüdischen Ritualmorden in Verbindung zu bringen. Himmler und Hitler glaubten also einerseits den anklagenden Gerüchten über eine jüdische Verschwörung, sie benutzten sie aber auch bewusst als Propaganda zur Durchsetzung ihrer Pläne.
Auch Stalin verbreitete während des „Großen Terrors“ von 1936 bis 1939 Verschwörungsgerüchte und ließ Millionen von Menschen erschießen oder in Arbeitslager abführen. Unter Folter sagten etliche der oft willkürlichen Opfer aus, tatsächlich antisowjetische Verschwörer zu sein. Dabei ließ Stalin bis zu seinem Tod auch Juden als „wurzellose Kosmopoliten“ und „zionistische Verschwörer“ verfolgen. Auch dabei konnte er sich auf grundlegende kommunistische Schriften berufen. So enden die Richtlinien der Kommunistischen Internationalen von 1919 mit einem Gewaltaufruf, der diesen Satz enthält: „Nieder mit der imperialistischen Verschwörung des Kapitals!“
In der DDR wiederum lehrte man ab 1951 im Geschichtsunterricht und –studium einheitlich die Dimitroff-Doktrin, die auch abschätzig als Agententheorie bezeichnet wird: Hitler und seine engsten Gefolgsleute seien hauptsächlich vom „Finanzkapital“ und den „Großindustriellen“ finanziert und letztlich deren Agenten gewesen. Anhänger dieser vulgär-marxistischen Geschichtsdeutung gingen häufig davon aus, beim „Finanzkapital“ habe es sich hauptsächlich um jüdische Bankiers gehandelt.
Auch heutzutage wird der Glaube an Verschwörungen politisch instrumentalisiert: So verbreitet die Neue Rechte die Angst vor einem geplanten „Bevölkerungsaustausch“ vor allem durch Muslime. Der AfD-Spitzenpolitiker Gauland sagte am 2.6.2016 in einer Rede: „Es ist der Versuch, das deutsche Volk allmählich zu ersetzen durch eine aus allen Teilen dieser Erde herbeigekommene Bevölkerung.“ Durch dieses anklagende Gerücht kann die aktuelle Regierung als fahrlässig oder gegen das eigene Volk verschworen dargestellt werden, während man sich selbst als Retter präsentiert. Es wird auch von anderen hochrangigen AfD-Politikern wie Alice Weidel, Björn Höcke, Beatrix von Storch oder Peter Boehringer kultiviert. Im Parteiprogramm der AfD von 2018 werden auf Seite 15 ganz im verschwörungsgläubigen Jargon – siehe Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp, Berlin 2018, S. 175. – die „Fehlentwicklungen der letzten Jahren“ einer nicht näher benannten „kleinen, machtvollen Führungsgruppe innerhalb der Parteien“ angelastet.
Auch in einer verkürzten Kapitalismuskritik, die in verschiedenen politischen Lagern verbreitet ist, findet sich mindestens eine Beimischung von Verschwörungsglauben: Kriege, Hunger und Armut gehen in dieser Sichtweise auf eine mehr oder minder abgestimmte Verschwörung alter weißer Männer zurück – das eine Prozent der Reichen, Machthaber, Lobbyisten, Zocker und Konzernbosse profitiert bewusst von dem Elend. Die Bösen sind immer die anderen. Dass dabei auch die Linke in nennenswertem Maße zu antisemitischen Verschwörungsgerüchten tendiert, führt beispielsweise Tom Uhlig in seinem Essay „Antisemitismus in der Linken“ aus.
Wer ist aktuell gefährlicher?
Kein Zweifel: Verschwörungsgläubige können durch missionierende Übergriffigkeit, aggressive Opferinszenierung ("Man will meinesgleichen mundtot machen!"), Abwehr von Argumenten und zirkuläre Logik ("Natürlich steckt Gates hinter Corona, er profitiert ja davon!") massiv nerven. Auch ist fraglich, ob solche Diskussionen in der Regel konstruktiv sind. Der Amerikanist Michael Butter, der ein Forschungsprojekt zur Analyse von Verschwörungstheorien leitet, verweist in einem Interview mit dem Standard auf empirische Untersuchungen, die zeigen, dass Verschwörungstheoretiker noch mehr an ihre Ideen glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert.
Aktuell machen "Hygiene-Demos" und "demokratischer Widerstand" vielen Menschen Angst: Während einer Pandemie wird besonders deutlich, dass man vom vernünftigen Verhalten anderer abhängig ist; trotz aller Bemühungen, die Kapazitäten der Krankenhäuser auszubauen, ist die Zahl der Intensivbetten im Notfall endlich. Umso mehr ärgert man sich mutmaßlich über Leute wie Ken Jebsen oder Eva Herman, die aus Verschwörungsglauben ein Geschäftsmodell gemacht haben. Dennoch wäre es eine massive Verkürzung, alle Verschwörungsgläubigen, Selbstinszenierer, rechtsextreme Umsturzfantasten und Menschen, die ungelenk Zweifel oder Überforderung anmelden, in einen Topf zu werfen.
Auch könnte man den Verschwörungsgläubigen in gewisser Weise sogar dankbar sein: Ihre Äußerungen fordern dazu auf, den eigenen Wissenschafts- und Autoritätsglauben zu begründen oder bescheidener zu formulieren. Die Konfrontation mit ihren Glaubensinhalten kann zu einer Reflexion über die eigene Position führen, zur Selbstbefragung: Wie wird Wissen vermittelt, wie groß ist der Wert des Vertrauens angesichts des Abgrunds aus Nichtwissen, Ungewissheit und vorläufigem Kenntnisstand, der sich auftut durch das Infektionsgeschehen einer Pandemie und ein noch kaum erforschtes, weil neues Virus?
Und wäre es nicht noch gruseliger, wenn es keine Proteste und keine Skepsis gegen tief ins Privatleben eingreifende Regierungsmaßnahmen gäbe, zumal die große Mehrheit der Menschen die Datenlage dahinter objektiv nicht beurteilen kann? So abstoßend man das Gebaren vieler Verschwörungsgläubiger finden kann und so sehr ich mir selbst viel mehr konstruktive Proteste für Erntehelfer*innen und Flüchtlinge, eine tiefgehende Reform der fleischverarbeitenden Industrie, Solidarität mit Obdachlosen, psychisch Kranken, Alten und Behinderten wünsche – Forderungen nach geschlossenen Reihen und einem unwidersprochenen Glauben an Autoritäten und Experten sind in einer offenen Gesellschaft kaum sympathischer, da ihnen etwas Totalitäres anhaftet.
In einer ironischen Volte werden die Verschwörungsgläubigen aktuell zum Sündenbock in der Corona-Krise. Unterstellt man ihnen etwa wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, sie könnten dadurch für einen möglichen Anstieg der Infektionsrate verantwortlich werden, entlastet das die Mehrheit von den Auswirkungen ihres eigenen, potenziell nachlässigen Verhaltens. Die zentrale Frage der nächsten Monate lautet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht: Wie bescheuert sind eigentlich diese Aluhutträger? Sondern vielmehr: Wie vertrauenswürdig, ehrlich, gewaltfrei und ernsthaft solidarisch wird sich der angeblich aufgeklärte Rest verhalten?
P.S.: Die beiden Kognitionswissenschaftler Stephan Lewandowsky (Universität Bristol) und John Cook (George Mason Universität) haben im März 2020 ein kleines Handbuch über Verschwörungsmythen herausgegeben. Es geht leicht verständlich vor allem den Fragen nach, woran man Verschwörungsmythen erkennt und wie man ihnen begegnen kann. Downloads in englischer und deutscher Sprache finden sich hier.
P.P.S.: Ein 21-seitiger „Leitfaden Verschwörungstheorien“ des von Michael Butter geleiteten Forschungsprojektes zur vergleichenden Analyse von Verschwörungstheorien findet sich hier.
P.P.P.S.: Dass Impfgegner auch wesentlich rabiater als in Deutschland auftreten können, zeigen die Morde in Pakistan. Siehe hier und hier.