Peter Raatz (1938 – 2009)
Wie riesige Schmetterlinge mit zusammengeklappten Flügeln gleiten die Segel über die Wasser der Havelbucht - durchsichtig, manche rot, andere blau oder gelb geadert. An Bord der „Windanna“ jubeln Menschen den näherkommenden Surferinnen und Surfern zu. Gleich werden die Sportlichen in ihren schwarzen Neopren-Anzügen an Deck steigen zu Preisverleihung, Kaffee, Kuchen und Wurstsuppe.
1972 gründete sich der Windsurfing Verein Berlin (WseV) an den Ufern des „großen Fensters“. Schon in den Nachkriegsjahren hieß es „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nischt wie raus nach Wannsee.“
Auch Peter Raatz zog es dorthin. Der Feinmechaniker-Lehrling lachte sich mit seinem Freund Peter Czada ein Paddelboot mit Segel an. Bald mussten größere Boote her, wie der Jollenkreuzer „Tante Anna“. Mädchen durften gerne mitsegeln. Dann musste Raatzens kleiner Bruder das Steuer halten. Die Freundin des kleinen Bruders hieß Monika und fuhr nur zu gerne mit – wegen Peter Raatz. Dieser kühne Bartschatten, diese vor Kraft knisternden Haare, dieser verwegene Zug um den Mund, diese abenteuerlustigen Augen. Und dann fuhr Peter auch noch diesen todschicken Oldtimer.
In Zeiten, in denen es noch den Verkupplungsparagrafen gab, konnten junge Leute nicht einfach zusammen ziehen. Zwei Nachnamen auf einem Türschild sprengten den Horizont der meisten Vermieter. Also fackelten Peter und Monika nicht lange, heirateten, zogen zusammen und bekamen zwei Söhne.
Als Peter 1971 im Spiegel einen Artikel über die amerikanische Neuerfindung „Windsurfing“ las, wusste er sofort, was zu tun war: Die zweite von seinen älteren Schwestern arbeitete bei der Lufthansa – die musste ein Board aus L.A. beschaffen. Peter besaß eines der sechs ersten Boards in Deutschland und gilt als ein Urvater des Windsurfens. Peters Kolleginnen und Kollegen bei der Bewag, seine Freunde und Freundinnen und wiederum deren Freunde und Freundinnen wurden angesteckt. Immer neue Boards kamen aus Übersee nach Berlin. Nah am Wasser, den Wind in den Händen, frei und beweglich – so wollten viele über das Wasser gleiten, hinein in jenen Schwebezustand, der die bürgerliche Enge, die auch in den 70ern noch herrschte, vergessen ließ.
Peter gründete mit den täglich mehr werdenden Surf-Fans im Sommer 1972 den WseV. Mit der Suche nach einem Domizil begann eine Auseinandersetzung, die in die Presse als „Wasserkrieg“ einging: Ein Gastronom überlässt dem Verein verdächtig günstig sein Restaurantschiff. Es besitzt jedoch keine Liegegenehmigung. Der Senat beauftragt die Polizei, die schleppt das Boot über den Wannsee zur Schwanwerder Insel. Die Surferinnen und Surfer holen sich ihr Domizil wütend zurück. Dem Senat reicht’s, er lässt das Schiff bei Nacht und Nebel wegbringen und verschrotten. Der Verein, nun immerhin rund 500 Mitglieder, zieht vor Gericht und bekommt Recht: zur Entschädigung muss ein neuer Liegeplatz her. Es vergehen jedoch noch 18 Jahre, in denen Peter und sein Verein wacker und zu allem entschlossen durch die trüben Gewässer der Lokalpolitik waten, bis schließlich am Wannseebadweg 46 die stolze „Windanna“ als Vereinsdomizil im Wasser ruht.
Peter zeigte sich kämpferisch, wenn es um die Verwirklichung seiner Vision ging. Beim Sport jedoch war sein Motto „Vom Konkurrenzkampf zum Sozialspiel“. Als er 1974 bei der ersten Windsurfing-WM in Frankreich mit seinem oft gehörten Schlachtruf „Jabbadabbadoo!“ früh in Führung geht, schließlich durch Motorboote mit Kameras verunsichert wird, umkippt und als letzter ins Ziel kommt, lacht er am Abend am lautesten – mitten unter 60 vergnügten WseVlern in einem verspiegelten Ballettsaal voller Matratzen.
Als Peter die Krebsdiagnose bekam, war er schon im Rentenalter. Nach wie vor musste er immer wieder an die Grenzen seiner Kräfte gehen; nun nicht im Verein sondern beim Haus eines Hauses in der Nähe von Michendorf. Die Krankheit passte überhaupt nicht in sein Selbstbild. Fassungslos besprach er sich mit seinem Seelsorger in der Klinik Havelhöhe, mit Blick auf’s „große Fenster“. Auch seine Kindheit erinnerte er dabei noch einmal: Die Flucht vor der roten Armee aus Schneidemühl nach Berlin, die zertrümmerte Hauptstadt, , die klirrende Kälte am heiligen Abend, wenn er mit seinem Vater im Pferdewagen Gänse zu den Häusern karrte, der frühe Tod des Vaters, Peter als dreizehnjähriges Familienoberhaupt.
Ein wenig Hilflosigkeit hat sich in den abenteuerlustigen Blick geschlichen, als ein geschwächter Peter beim WseV-Sommerfest solange bleiben will, bis die Kapelle spielt. Mit seiner Monika eröffnet er den Tanz, zieht sie fest an sich und dreht sich mit ihr zum letzten Mal inmitten seiner Freunde.
(erschienen im Tagesspiegel am 13.11.2009)