Ein fiktives Gespräch zwischen der Autorin Hanya Yanagihara und ihrem Verleger vor der Veröffentlichung ihres Romans „Ein wenig Leben“.
Verleger: Gut, Sie zu sehen, Frau Yanagihara. Ihr letztes Buch lief ja durchaus passabel. Haben Sie denn schon was Neues für uns?
Yanagihara: In der Tat. Ich bin da an etwas sehr Spannendem dran. Die Hauptfigur ist ein schwer traumatisierter Mann, der als Junge brutalen sexuellen…
V.: Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Aber Missbrauchsopfer sind ein Show-Stopper. Klingt harsch, aber da sind sich sämtliche Marketingexperten der großen Verlage einig. Das Thema bietet nur Beklemmung und keinen Mehrwert. Romanleser interessieren sich auch nicht für das Leben von geistig Behinderten.
Y.: Also bitte! Was ist mit Jessica Jones? Der Netflix-Serie?
V.: Dürfte ein Flop werden, obwohl es wenigstens mit Action, Crime und Fantasy gemischt ist. Im Thriller-Business geht so etwas – siehe Stieg Larsons Trilogie, aber nur, wenn Sie a) mächtig dick auftragen und b) die Traumasuse nicht die Hauptfigur ist. Aber wir reden jetzt hier doch über Literatur. Weltliteratur. Erfolgreiche Weltliteratur – wenn Sie verstehen, was ich meine.
Y.: Das Thema ist welthaltig. Und es geht uns alle an. Und ich beschäftige mich
seit...
V.: Jajaja. Können Sie es nicht im Buch verstecken? Bauen Sie ein trojanisches Pferd, einen Plot um Liebe, Freundschaft oder die Weisheit des Gärtnerns.
Y.: Hmm. Freundschaft ginge vielleicht.
V.: Gut. Sehr gut.
Y.: Also, es wird um vier Männer gehen. Sie sind alle befreundet. Aber der Traumatisierte
ist so verschlossen, dass sich alle von ihm abwenden. Die Anderen ertragen ihn einfach nicht mehr und können mit seinen Süchten und Zwängen und seiner Reizbarkeit nicht umgehen. Mit dem, was er
bei ihnen auslöst.
V.: Stopp! Niemand will lesen, wie sehr Traumatisierte nerven und wie überfordert wir alle davon sind.Könnten die Freunde nicht eine Engelsgeduld haben? Alles verzeihen, alles verstehen?
Y.: Aber das wäre dann ja wie ein Märchen?
V.: Ja! Menschen mögen Märchen. Im Gegenzug dürfen Sie die Täter, also die Männer, die den Jungen missbrauchen…
Y.: Es ist eine Frau.
V.: Stopp! No-Go. Also bitte! Wollen Sie Bücher verkaufen oder wieder bei
Starbucks...
Y.: Gut, von mir aus können es auch Männer…
V.: Genau. Und die zeigen sie so kaltschnäuzig und dehumanisiert wie möglich. Komplette Monster. Verstehen Sie? Engel hier, Teufel da!
Y.: Hmm, ja, aber gerade so ist es ja eben nicht, sondern…
V.: Papperlapapp. Ich weiß, was Leser wirklich bei der Stange hält.
Y.: Na gut, also die vier Freunde schlagen sich in New York durch, helfen sich, aber die Hauptfigur…
V.: Eine der Hauptfiguren!
Y.: Also Jude St. Francis, der Traumatisierte – er scheitert im Berufsleben. Er ist viel zu kaputt, um sich dauerhaft konzentrieren und in Hierarchien einordnen zu können. Seine inneren Verwundungen, sein Misstrauen, seine Panikattacken, seine Depressionen, seine Alkoholsucht und seine Depersonalisationen kosten ihn so viel Kraft, dass er weitgehend arbeitsunfähig….
V.: Mooo—ment! Könnten wir das nicht ein klitzekleines bisschen ändern? Mein Vorschlag: Ja, der Typ ist voll kaputt, aber mega-erfolgreich.
Y.: Hä?
V.: Ja. Ich stelle mir das so vor: schwer traumatisiert, aber voll belastbar. Nachts ritzt er sich, morgens schwimmt er drei Kilometer in seinem Privatschwimmbad, dann arbeitet er 12 Stunden oder mehr in einer Top-Anwalts-Kanzlei.
Y.: Aber das wäre doch eine Verhöhnung der Menschen, die durch posttraumatische Belastungen so sehr eingeschränkt sind, dass…
V.: Im Gegenteil! Es zeigt, wozu man auch als schwer Gebeutelter noch im Stande sein kann. Das lieben die Leute! Triumph des Willens! Die Neidischen können sich dann sagen: Okay, er ist reich und extrem gutaussehend…
Y.: Extrem gutaussehend?
V.: Ja, na klar. Sie müssen diese Traumascheiße doch irgendwie kompensieren. Jessica Jones ist doch auch ganz ansehnlich. Also: Die Neidischen sagen sich: Reich ist er ja, aber ein Psycho. Und die, die selbst betroffen sind, oder so, die können sagen: Hmm, wenn ich mich mal ein bisschen zusammenreiße, werde ich vielleicht auch noch Millionär. Wie klingt das?
Y.: Total hanebüchen.
V.: Dann schreiben Sie das. Und schreiben Sie das einfach so runter. Jeden Tag 20 Seiten, okay? Keine Angst vor Kitsch, Soap-Opera-Dialogen, Längen. Wir kürzen das dann später noch ein bisschen. So auf 1000 Seiten, oder so. Was meinen Sie?
Y.: Ich , äh…
V.: Na also. Ich wusste doch, dass Sie auch weiter mit uns zusammenarbeiten wollen. Glas Sekt?
P.S.: Der Roman hat durchaus seine Stärken: fesselnde Passagen, ernsthafte Einfühlung in spezifische Probleme eines schwer gezeichneten Menschen, ein fluides Verständnis der Konzepte "Liebe" und "Freundschaft" bzw. "hetero-" und "homosexuell". Außerdem enthalten: schöne Überlegungen und Inspirationen zu den Themen "Freundschaft", "Erfolg" und "New York", das wie ein weiterer Charakter in der Geschichte wirkt. Aber wenn ich der Lektor gewesen wäre... wäre es ein Flop geworden. Hihi.