An einem düsteren, trüben und stillen Herbsttag, an dem die Wolken tief und schwer am Himmel hingen, war ich viele Stunden ganz allein durch eine seltsam trostlose Gegend gefahren und sah plötzlich, als die Abendschatten sich schon niedersenkten, das melancholisch umdunkelte Anwesen der Therapeuten Roderick Werther und Franz Ascher. Ich parkte, stieg aus und hielt inne. Mir war, als umgebe den alten Herrensitz ein widernatürlicher Dunst, ein kaum sichtbares Miasma, gleich der feurig leuchtenden Gloriolen bestimmter enorm wuchernder Phantasiegewächse, die ich einst unter dem Einfluss des angeblichen Traumblockers Hyperhypnol F in fiebrigen Nachtgesichten erblickt hatte. Vielleicht hatte jedoch auch bloß das stundenlange Fahren meine Augen ermüdet, denn als ich sie einmal gründlich rieb, verschwand der spukhafte Schleier.
Das Anwesen umringte ein seinerseits von Röhricht gesäumter Teich, so dass ich bald über eine Brücke schritt, zu deren Seiten schwarze Wasser entenbetupft und freudlos dümpelten. Ich seufzte und schickte mich an, ein paar Zeilen des bekannten Vanitas-Gedichtes von Gryphius zu zitieren, hielt dann aber inne und fragte mich, ob ich eigentlich noch alle Latten am Zaun hatte. What the fuck hatte ich mir gedacht, als ich auf meine Freundin gehört und mich bei Werther und Ascher zum Wochenendseminar „Hochsensibel – Herausforderung und Chance“ angemeldet hatte? Ich war ein ganz normaler Mann des 21. Jahrhunderts, also ein durchaus eigensinniger Individualist und markanter Charakter, aber sicher nicht hochsensibel. „Hochsensibel“, diese Modevokabel diente doch lediglich als wohlwollende Umschreibung für vollneurotische Barfußtänzer, die ganztags mit Ohropax und Sonnenbrille quasitraumatisiert durch die Gegend huschten, vorzugsweise reizarme Kost in zisalpinen Schweigeklöstern mümmelten und in wehleidigen Zärtel-Zirkeln über ihre vermeintliche Sonderbegabung a.k.a. Vollmeise schwadronierten. Ich hingegen aß stark gewürztes Fleisch, hörte krachige Musik, sah gerne reizüberflutende Filme und sah mich auch sonst eher als extrovertiertes, ja durchaus robust-rustikales Raubein. So hatte ich beispielsweise jüngst im Kino einem übel schmatzenden Popcornesser kurzerhand seine nach zuckrigem Stutenurin müffelnde Tüte entwendet, um mich in Ruhe auf den verwickelten Zeichentrickfilm „Ritter Rost 2 – das Schrottkomplott“ konzentrieren zu können. Auf dem Heimweg hatte meine Freundin in ungewöhnlich scharfem Tonfall gesagt: „Ich kann für dich nur hoffen, dass du hochsensibel bist, denn sonst bin ich mit meinem Latein am Ende.“
Zu Hause hatte sie mich zum Ausfüllen eines Online-Test auf der Homepage „Zartbesaitet“ gedrängt und mein Testergebnis hatte eine beachtliche, ja vielleicht sogar erschreckende Hochsensibilität nahegelegt. Natürlich, so funktionierten ja die Tests auf solchen Seiten! Hochsensibel, wenn ich das schon hörte! Ich hätte aus der Haut fahren können! Hochsensibel war höchstens meine Freundin, vor allem, wenn es um sogenannten Dreck, sogenannte Sozialkompetenz oder sogenannte Aggressionsprobleme ging. Herrschaftszeiten, ich hatte nach dem Film dem Kind seine Scheißpopcorntüte ja wiederzugeben versucht, und der Mutter ihre übelkeitserregenden Nachos samt Salsa, aber die beiden Stumpfmampfer waren ja schon kurz nach meiner pädagogischen Maßnahme vor mir weggelaufen. Ist es denn meine Schuld, wenn manche Menschen so hyperempfindlich reagieren, obwohl sie sich selbst alles andere als sensibel betragen? Und wie konnte meine sonst so skeptische Freundin nur an das Ergebnis eines Online-Tests glauben? Solchen halbseidenen Spielereien zufolge hatte ich auch Führungsqualitäten, eine Essstörung, eine sexsüchtige Mutter und einen IQ zwischen 139 (Welt-Online) und 95 (Go-Feminin).
Aber schließlich hatte ich nachgeben. In einer Beziehung sollte man von Zeit zu Zeit einmal guten Willen zeigen. Davon abgesehen brachte es mir wahrscheinlich künftig argumentative Vorteile, wenn ich mich von irgendeinem gewieften Quacksalber als hochsensibel zertifizieren ließ.
Nun stand ich also in der Empfangshalle von Werther und Ascher und in eben dieser einem Lakai gegenüber, der mich förmlich begrüßte und mir Mantel und Koffer abnahm, um sie zu meinem Zimmer zu bugsieren. Sogleich verkrampfte sich mein Herz in einer plötzlich aufwallenden Bedrückung. Warum musste der arme Mann aufgrund gewiss rein zufälliger Umstände für ein sicher geringes Entgelt mir zu Diensten sein? Ja, sollten wir nicht alle Freie unter Freien sein? Und verriet mir nicht die starke Pigmentierung des Instant-Servilen, dass die gut betuchten Therapeuten womöglich Kapital aus ethnisch bedingten Ungleichgewichten zogen und ich, indirekt, aber doch augenscheinlich, von diesem offen praktizierten Rassismus mitprofitierte? Bevor mir noch unwohler zumute wurde, machte ich mir Luft und sagte: „Oh Mohr, trage mir nicht Mantel und Koffer, die ich selbst tragen kann. Auch finde ich selbst zum Zimmer. Mache er sich lieber einen lauen Lenz, denn ich ertrage dieses Elend nicht.“ Verblüfft händigte mir der Schwarze meine Sachen aus und warf mir einen verstimmten Blick zu. Erst später begriff ich, dass sich der Diener ein Handgeld von mir erwartet und ich ihm dies mit meiner Schrulligkeit verhagelt hatte. Sofort schämte ich mich und wollte gerade zu dem Unglücksraben umkehren, als mir im Flur zu meiner Unterkunft ein schwarz gewandetes Mädchen entgegenschwebte. Seine kajalumflorten Augen trugen tintige Trübnis zur Schau, wie man sie nur zu gut von Karpfen in Badewannen zur Silvesterzeit kennt, und sogleich schoss mir eine Szene aus meiner Kindheit in den Kopf, zu grauenhaft, um hier erwähnt zu werden. Des Mädchens Obergewand zierte ein Pentagramm in Herzform, derweil auf ihrem durchaus handfesten Schuhwerk Blumen und Totenschädel ein mich sonderbar innig anrührendes Muster bildeten.
„Hallo“, flüsterte die jung Erbleichte kaum hörbar. Hätte mir nicht bereits ihr Blick ihre ganze Bedürftigkeit aufgeschlüsselt – spätestens jenes scheinbar schlichte, wahrhaftig aber vehement an mir nestelnde Grußwort hätte mir die Augen für die Situation geöffnet. Das gute Kind schritt am Rande abgründiger Verzweiflung, hatte sich in zunehmend plausibel erscheinenden Selbstmordgedanken verhakt und suchte nun eine väterliche Schulter, um sich anzulehnen und den zerborstenen Glauben an die Güte der Welt zumindest notdürftig zusammen zu leimen. Ich spürte die gierige Not des Mädchens wie eine in meiner Brust wühlende Stahlklaue. Dabei stand ich noch ganz im Bann der aufwühlenden Begegnung mit dem Dienstboten und brauchte selbst Hilfe. Unter dieser grauenhaften Bedrängnis ächzte ich in äußerster Notwehr: „Lass mich, du grässlicher Trauerkloß!“ Dann ging ich weiter, ein blutendes Herz in der Brust, zerrissen zwischen dem Wunsch zu helfen und der Einsicht in die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens. Nach ein paar Metern blickte ich mich verstohlen nach dem Mädchen um und sah wie es sich unleidlich am unteren Saum seines schwarzen Oberteils zupfte. Der billige Stoff saß spack und besaß obendrein sicher nicht jene elastische Viskosität, die heikle Häute benötigen, um sich nicht belästigt, ja vom Textil geradezu sexuell missbraucht zu fühlen.
Als ich mein Zimmer aufschloss, fühlte ich mich etwas schwach in den Beinen. Was war ich nur für ein Grobian. Dem Diener hatte ich kein Geld gegeben, das Mädchen hatte ich unwirsch zum „Trauerkloß“ erklärt, anstatt einfach stillschweigend seinen als Begrüßung getarnten Übergriff zu ignorieren. Brauchte ich wirklich noch mehr Beweise für meine geringe Sensibilität? Ich schüttelte mich und sagte mir laut „Reiß dich zusammen, verdammt!“, so wie es mir meine Mutter früher wieder und wieder gesagt hatte, zum Beispiel nachdem ich im Kindergarten einen Vormittag lang toter Mann gespielt hatte, um meine Ruhe vor den sinnlos in der Gegend herumlärmenden Restkindern zu haben.
Ich betrat mein Zimmer, sah dessen Einrichtung und brach in Tränen aus. Wie liebevoll schlicht die Vorhänge von dieser grundgütigen Gardinenstange hingen! Wie hübsch und achtsam man ein elegantes Tischchen mit frischen Blumen drapiert hatte, die – welch seltenes Glück! – nicht abgeschnitten in einer Vase voll modernden Wassers ihrem Ende entgegenwelkten, sondern frisch aus einem handbemalten Töpfchen voller schosshaft riechender Blumenerde strotzten!
„Spinn jetzt nicht rum, du Memme“, herrschte ich mich mit einer inneren Stimme an, die der meines Vaters glich. Früh waren ihm meine Tränen verhasst, ganz gleich ob ich sie vergoss ob der hilflos gegen die Fenster fliegenden Fliegen, oder wegen der Schnecken, die kein Haus besaßen. Und er hatte ja Recht. Manchmal ließ ich mich auch heute noch gehen und driftete von einem sentimentalen Gefühl in das nächste, anstatt dieser Flut aus bald süßlichen, bald bitteren Empfindungen Einhalt zu gebieten und meine flatterhaften Gedanken auf Nüchtern-Pragmatisches zu lenken. Ich griff in mein Jackett und beförderte einen Flachmann zutage, dessen hochprozentigen Inhalt als pragmatisches Nerventonikum zu nutzen mir eine mannhafte Vernunft befahl, obwohl meine Freundin behauptete, just jene wohlfeile Medizin habe mein Nervenkleid im Laufe der Jahre ausgefasert, ja völlig zerfranst und zerrieben. Immerhin bestritt ich so mein Abendessen, ohne zu völlig fremden Menschen in einen möglicherweise zugigen Speisesaal hinabsteigen zu müssen, noch dazu pünktlich um 19.30 Uhr, wodurch ich mich unerhört unter Druck gesetzt fühlte. Nach dem Genuss des gesamten Flachmann-Inhaltes schlief ich ganz normal ein.
Nachts weckte mich der obszöne Duft der geilen Blumen und ich musste sie ins Bad stellen, wo ich mich auch gleich am Strahl des Wasserhahns gütlich tat. Das köstliche Nass hatte in dieser Region ein mineralisches Bukett, einen durchaus femininen Korpus und offenbarte im Abgang Nuancen von Muskat, Cassis und Roggenbrot. Erquickt drehte ich den Hahn ab. Die plötzlich einsetzende Stille traf mich wie ein Schock, und mit einem Mal erschien es meinem Gehör, als vernähme es das Knuspern von Altweltmäusen – genauer gesagt Dachratten der Art Rattus rattus – aus dem mir unsichtbaren Gebälk des Gemäuers, wobei ich zu empfinden meinte, dass die zaghaft knabbernden Nager irgendetwas bedrückte, vielleicht lediglich eine sachte nächtliche Melancholie, wobei diese Gefühlslage sogleich in die meinige hinein diffundierte und ich – blitzartig der Vergänglichkeit und ausweglosen Sinnlosigkeit alles Lebendigen eingedenk – eine gestochen scharfe Phantasie entwarf, in der ich mich per Pistolenschuss in den Mund tötete und schließlich als ruheloser Geist über meiner eigenen Beerdigung schwebte, auf der die wenigen Anwesenden nicht allzu traurig erschienen. Dann aber riss mich ein fieses Kribbeln aus der Träumerei und ich lupfte meine Pyjamahose, um an meiner Leiste einen nässenden Ausschlag zu vergegenwärtigen, just auf der Höhe, auf der das karpfengesichtige Mädchen an seinem Oberteil gezupft hatte. Mir wurde mulmig zumute. Vielleicht handelte es sich bei der in schwarzen Kleidern wandelnden Weißwurst um eine Hexe. Natürlich glaubte ich nicht an derlei volkstümliche Schnurren, aber in diesem Gemäuer der knuspernden Ratten, vor dessen Fenstern ein stürmischer Boreas schwarze Wolken rasend schnell über ein durch Wetterleuchten und Mondlicht angestrahltes Himmelsgewölbe trieb, als seien es die zerfetzten Leichentücher auferstandener Grabgestalten, da… hatte ich den Anfang meines Satzes verloren. Meine Mulmigkeit steigerte sich zu einem Hintergrundgrausen. Zwar war ich keinesfalls abergläubisch, aber ich fürchtete, mich nun doch fürchten zu können und durch diese Furcht schreckliche Wirkungen herauf zu beschwören, wäre ich doch nicht der erste, der nicht durch die Verhexung selbst sondern durch die Angst vor Verhexung der Krankheit, dem Wahnsinn und schließlich dem Tod anheimfällt, ja, wir naturwissenschaftlichen Geister können nicht verflucht werden, wenn wir uns nicht selbst verfluchen, aber mit meinen Gedanken war manchmal eben nicht gut Kirschen essen und also packte ich so rasch wie möglich meine Sachen und flüchtete aus dem Hause Werther und Ascher. Auf der Brücke warf ich noch einmal einen Blick zurück und glaubte, illuminiert vom widerwärtigen Gefunkel des tot durchs All driftenden Erdtrabanten – oder war es doch das flammenfarbene Miasma? – einen kaum dingerficken… quatsch…fingerdicken Riss zu sehen, der von den Zinnen des Gemäuers bis hinab in die schwarzen Wasser zickzackte.
Das restliche Wochenende verbrachte ich zur Sammlung in einem mecklenburgischen Gasthaus namens „Hasenkrug“ und aß Ente und Klöße. Was sollte ich meiner Freundin sagen? Wollte ich fortan als hochsensibel, neurotisch, verzogen, etwas kompliziert, Posttraumatiker, co-abhängiger ADHS-Patient, Quartals-Borderliner, alles zusammen oder nichts von alledem etikettiert werden? Ich fand ja „eigen“ ganz gut, aber dem Wort mangelte es an Wissenschaftlichkeit. Auch „wahrnehmungsoriginell“ hatte etwas, allerdings entschuldigte mich der Begriff nur für die Art, wie ich die Welt sah, nicht wie ich mich darin verhielt. Just dies war aber der Knackpunkt: Meine Freundin vertrat die gewagte These, man sei für sein Verhalten selbst verantwortlich. Also nannte ich mich vielleicht lieber „neurotisch“, das klang weniger nach Handlungsfreiheit und Selbstverantwortung als „hochsensibel“. Anderseits klang es krank, und in „hochsensibel“ schwang immerhin „hochbegabt“ mit.
Ich ging in die Gaststube des Hasenkrugs, um bei einem Glas Fassbier weiter nachzudenken, als was ich gelten wollte. Der aus Berlin stammende Gastwirt zapfte und sprach währenddessen im Tonfall des versierten Schwadroneurs: „Hamse gehört? Na dit mit dem alten Anwesen von den Psychoheinis. Dit is jestern Nacht fast komplett abgebrannt. Jaja. Glaubensesmir ruhig. Eine von den Kranken hat ihr Zimmer angezündet. Wooosch! Noch n ganz junges Ding. Na, nu fangen se doch nicht an zu weinen.“
Augenblicklich riss ich mich zusammen, ich wollte nicht hochsensibel erscheinen. Also weinte ich nach innen weiter und griff nach außen in eine Schale mit wie ohnmächtig daliegenden Erdnüssen.