Mehr Distanz als Nähe

"Schwimmerbecken" von Ulrike Claudia Bleier

 

„Schon lange bevor ich zurückgekehrt bin an die Kollbach, wo alles angefangen hat mit dem Warten, schon lange davor hat Bruderherz kein Indonesisch mehr gesprochen, kein Malaiisch, er hat gar nicht mehr gesprochen, es habe sich seit einiger Zeit angedeutet, hat der Arzt gesagt, der Manfred heißt und mit dem ich manchmal essen gehe und danach zu den Häuslers, es hat sich schon angedeutet, habe ich gesagt, als er damals zurückgekehrt ist nach Kollbach und ich noch geblieben bin und auf ihn gewartet habe, schon da hat es sich mit all dem Malaiisch und Indonesisch angedeutet.“

 

„Bruderherz“ so nennt die Icherzählerin Luise in ihren auf 58 Episoden verteilten Erinnerungen ihren Zwillingsbruder Ludwig. „Bruderherz“ – der Begriff kann innige Verbundenheit aber auch ironische Distanz ausdrücken, und um beides – die große Nähe zum Bruder, als auch um die schließlich nicht mehr überbrückbare Distanz – geht es in den kurzen Kapiteln. Mit dieser Geschwisterbeziehung als Zentrum handelt „Schwimmerbecken“ allgemein von Nähe und Distanz – zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Zentrales Instrument, um sich mit einem Gegenüber zu verbinden, aber auch, um sich von allem zu distanzieren, ist die Sprache. Als Ludwig nach fünfjährigem Auslandsaufenthalt in das kleine bayrische Heimatdorf Kollbach zurückkehrt, spricht er nicht mehr die Sprache der Einheimischen, der Eltern, seiner Schwester. Stattdessen zieht er sich in eine Kunstsprache zurück, die Luise anfangs als „Indonesisch“ bezeichnet. Schließlich verstummt er. Auch die Schwester distanziert sich im Lauf der nicht chronologisch erzählten Ereignisse von ihrem Bruder. Zwar stellt sie wie eine Detektivin Nachforschungen über ihn an, aber gerade dadurch, dass sie ihn zu einem vielleicht lösbaren Rätsel erklärt, macht sie ihn vom Subjekt zum Objekt – die distanzierende Wirkung der Analyse.

 

Wenn es eine Erklärung für den Wahnsinn des Bruders gibt, der es auch noch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt schafft, eine ganze Entenfamilie umzubringen, dann ist es eine Art kosmisches Unglück von Beginn an, eine nicht zu tilgende Schuld Unschuldiger: Ein drittes Kind stirbt im Mutterleib, Ludwig und Luise kommen ohne ihren Drilling zur Welt, von nun an begleitet von einem Gefühl von Schuld und Mangel. Zumindest ist das ein Interpretationsangebot, das die Icherzählerin aus den Aufzeichnungen ihres psychisch kranken Bruders ableitet. Anders gesagt: Die Schuld ist schon da, bevor man überhaupt das Licht der Welt erblickt – eine Vorstellung, die in das katholische Heimatdorf des Zwillingpaares passt und zur zyklischen Erzählweise des Textes: Es gibt keinen Anfang und kein Ende, wo die Schuld schon immer da war und Erlösung nicht in Sicht ist. Das erinnert an Thomas Bernhard, in dessen Universum die Existenz von vorneherein eine leidvolle und vor allem fragwürdige ist. An Thomas Bernhard erinnert auch die Schilderung der Provinz als unheilvollem Ort, an dem natürlich Katzen ertränkt werden, stumpfsinnige Frömmelei und reaktionäre Gesinnung Hand in Hand gehen und sich Mädchen vom Kirchturm stürzen. Eine dritte Parallele zu den Texten Bernhards ist die mit vielen Wiederholungen und Variationen arbeitende Erzählweise der Protagonistin. Erklärt werden diese Redundanzen mit Luises Neigung, sich in Gedanken hineinzusteigern, so dass Sätze wie diese entstehen: „…seine Augen sind unnatürlich blau, hat Bruderherz immer gesagt, findest du nicht, so blaue Augen hat doch kein normaler Mensch, hat mein Bruder immer gesagt, und jetzt merke ich, dass er Recht hatte. Das Blau in den Augen des Vaters verschwindet, von Tag zu Tag verblasst das Blau seiner Augen, je stärker die Bitterkeit zunimmt, desto verblasster das Blau seiner Augen, ich merke, dass ich mich in diesen Gedanken hineinsteigere, ich möchte mich nicht hineinsteigern, aber ich kann es nicht lassen.“           

 

Durch diese Erzählweise, in der sich Luise vom Rhythmus und Klang der Worte mitreißen lässt, entsteht ein auch Leser und Leserin mitreißender Gedankenstrom, der allerdings auch immer wieder einmal verlaberte Passagen mit sich bringt: „Charlie kann das Ei so aufschlagen, dass das Eiweiß von selbst in die Tasse rinnt, das Eigelb bleibt in der Schale. Sie muss nicht trennen, wie die Großmutter, die Großmutter hat das Eiweiß vom Eigelb minutenlang trennen müssen, bis es freiwillig in die Tasse gelaufen ist. Wahrscheinlich hat sie so lange gebraucht, weil es ihr Spaß gemacht hat, das akribische Trennen, mir selbst macht es auch Spaß, ein Ei akribisch zu trennen.“                                                                                                          

 

Wahrscheinlich sind mir solche vor allem vom Wortklang beflügelte Passagen deshalb besonders ins Auge gefallen, weil sich die Distanz der Erzählerin auf mich übertragen und mich das Buch oft lauwarm oder kühl gelassen hat, was nicht immer etwas schlechtes sein muss, es entsteht lediglich eine andere, oft genauere Rezeption. In „Schwimmerbecken“ finden sich grandiose, oft von subtilem Humor getragene Anekdoten (wie die mit dem Mädchen, das den Selbstmord seiner Freundinnen überlebte) und Schilderungen von Alltagsgegenständen und –verrichtungen, die durch luzide Beobachtung eine neue magische Dimension erhalten. Aber die Beziehungen der Figuren zueinander bleiben in meinen Augen bei aller Schärfe auch des psychologischen Blicks weitgehend Behauptung. Zu keiner Zeit spüre ich die Verbundenheit zwischen Bruder und Schwester, zu keiner Zeit ist mir der Bruder sympathisch, wird er doch von Anfang an in einem völlig unzugänglichen Zustand geschildert. Auch im Kleinen arbeitet der Text des Öfteren mit Bildern, die sich schick lesen, aber nicht Beobachtungen sondern Behauptungen entspringen: Jemand schwimmt, als teile sich das Wasser vor ihm. Die Familie redet miteinander in eingeübten Sätzen wie aus einer Gebrauchsanweisung, die sie in unterschiedlichen Betonungen aufsagt, die aber nie passen. Die Icherzählerin dreht sich an jeder Ecke um und versteckt sich, weil sie glaubt, ihr Bruder tauche auf.                                                        

„Schwimmerbecken“ ist wesentlich stärker in der Schilderung von Distanz, als in der Schilderung von Nähe – was vermutlich im Wesen vom Schreiben und Sprechen „über“ etwas liegt. Es ist ein origineller (Bleier ist eben keine Bernhard-Epigone!), eigensinniger, sprachmächtiger, durchaus auch nerviger ("Bruderherz!") Roman voller gelungener Miniaturen, zusammengehalten von einer durchgängigen heiter-bedrückten Atmosphäre, die nachwirkt. Trotz der erwähnten Schwächen ist es einer jener Bücher, an die man sich sehr wahrscheinlich noch erinnert, wenn gefälligere Romane längst vergessen sind.  

 

Ulrike Anna Bleier: Schwimmerbecken. edition lichtung 2016, 160 Seiten, 16,90 Euro